„Dass alle haben, was sie brauchen“

Reiner Bocka, der gute Geist vom „Galao“ in der Tübinger Straße, beseelt die Stuttgarter Szene. Die schützt ihn vor wirtschaftlichem Unheil.

Reiner Bocka ist frisch gebräunt, erholt sieht er aus. Er kommt gerade zurück aus dem Urlaub. Er begrüßt mich schwungvoll und schlägt vor, sich einen Tisch im Café nebenan zu suchen. “Da haben wir vielleicht eher unsere Ruhe.” Privatheit und Urlaub sind für Reiner, wie für viele Gastronomen, Fremdwörter: “Privat sein existiert für mich nicht mehr reell.” Seit sechzehn Jahren macht er Veranstaltungen, seit acht Jahren die sogenannte “Silent Friday”- Party, seit sieben das Galao und seit vier Jahren auch noch das Marienplatzfest.

Eigentlich hat Reiner Theologie studiert. Wenn man ihn darauf anspricht, verdreht er gespielt die Augen und sagt: “Ja, meine Freunde sagen immer, das Galao ist jetzt meine eigene Kirche.” Er hört das nicht gern. Der Kirche hat er abgeschworen. Als er zwanzig war, glaubt er die Welt verbessern zu können, indem er Pfarrer wird. Diese Einstellung kommt ihm jetzt naiv vor: “Damals war ich einfach mega unreif.” Er hält kurz inne. “Na gut, jetzt eigentlich auch noch oft,” ergänzt er und grinst. Aber der inzwischen 50-jährige Wirt gibt seinen Freunden auch ein wenig Recht. “Apriori” sei er, genauso wie ein Pfarrer, nur für andere da. “Ich lebe hier ja nicht meine Privatheit, ich tu das für die Menschen.”

“Ich hab mir zwar geschworen, mich nie wieder aufzuopfern”, erinnert er sich. Und stellt fest: “Ich tu es indirekt doch wieder.” Sein erstes Gebot gilt im Galao: “Dass alle sich wohlfühlen und dass alle haben, was sie brauchen.” Reiner ist so etwas wie die Mutter Teresa der Tübingerstraße, deren eigenes Heim direkt über dem Galao auch müden Gästen, Musikern und Technikern als Herberge gerne mal die Türen öffnet.

Der Unterschied zu anderen Gastronomen: Reiners Arbeit wird gesehen und geschätzt. “Die Leute lieben’s und ich lieb’s.” In Stuttgart ist er ein Held. Ein Heilsbringer für die sich nach Kreuz – oder Prenzelberg sehnenden Szene-Sucher. “Ich werd oft gefragt, was das hier ist? Ist das Berlin?”- “Nee, das bin halt ich.”

“Krass” findet Reiner es nach 16 Jahren immer noch, dass so viele Leute seine Arbeit gut finden. Er klingt bescheiden. “Die anderen machen ja die Musik, ich hör doch nur zu.” Seine einzige Stärke sei, den anderen die Bühne für ihre Kunst zu bieten. Er selbst würde sich das nicht trauen, im Mittelpunkt zu stehen. “Ich habe ein Problem damit, mich nackt, mit dem zu präsentieren, was ich will.” Typisch für ihn sei eher, sich vorsichtig Dinge hineinzumogeln.

“Ich werde oft gefragt, was das hier ist. Ist das Berlin? Nee, das bin halt ich”

Nach der Theologie studierte Reiner Bocka erst noch Sozialpädagogik, sicherte sich einen ordentlichen Job in Tübingen. Alles war “haititaiti”, bis er sich langsam seiner Leidenschaft nähert:

Der Livemusik, die ihn seit seiner Kindheit in Bann schlägt. „Heimelig“, „bäuerlich“, „bayrisch“, so beschreibt er seine Heimat auf der schwäbischen Alb. Man hat oft zusammengesessen und gemeinsam „volkstümliche Hausmusik” gemacht. Hier reifte der Wunsch nach einem eigenen Platz für Musikveranstaltungen. Für das, was heute eine eigene “Venue” heißt.

Nach Dorfjugend und Studium in Tübingen kann er 2000 in Stuttgart zum ersten Mal komplett alleine wohnen.
Erfolgreich organisiert er die monatliche “Silent Friday” Party. Das dann acht Jahre lang, bis er einen Schnitt macht. “Ich wurde müde vom ganzen Rumtingeln. Und letztendlich hab ich immer draufgezahlt.” Ein Freund rät: „Eigentlich brauchst du doch nur eine Location.“ Leichter gesagt als gefunden. Zwei Anläufe: Mit Partnern kommt Reiner nicht auf einen Nenner. Zwei Anläufe schlagen fehl. Der eine zwei Tage vor der fälligen Unterschrift. Und auch der andere ist statt Café heute nur ein Copyshop. Mit den beiden Partnern kommt Reiner nicht auf einen Nenner.

Das Galao ist ein Zufall. “Ich war Gast hier, so wie du.” Er kennt die Besitzer, für die er schon Konzerte organisiert hat. Als einer raus will, kauft sich Reiner ein. Er muss lachen, als er erzählt, dass er zu dem Zeitpunkt noch nie an einer Kaffeemaschine gestanden hätte: “Wirklich, never ever.”

Kaffee kochen kann er jetzt zwar, trotzdem stemmt sein Geschäftspartner Marcel den Cafébetrieb. Und das ist gut so, “wir lassen uns unseren Freiraum”, sagt Reiner. Er ist jetzt wesentlich erfahrener, aber er beichtet: “Ich kann trotzdem überhaupt nicht kalkulieren. Ob Schach oder Backgammon, ich verlier‘ immer.” Reiner sagt, dass er keine Ahnung hatte, ob das Galao je funktionieren würde. Die Stuttgarter lassen ihn das riskante Spiel gewinnen.

Zwar droht 2011 die Schließung des Cafés. Aber da schweben Schutzengel über dem “Galao”. 125.00 Euro fehlen Reiner, um Vorkaufsrecht und die Räume zu behalten. Der finanzielle Segen kommt aus der Wolke. Stammkunden reagieren auf seine “Facebook-Bitte” mit festen Kreditzusagen von über 70.000 Euro. Mit seinem Crowdfunding bekommt Reiner Schlagzeilen. Er ist ein Pionier. Und wird zum Guru, zu dem nun auch andere Gastronomen pilgern. Oft wird er gefragt, warum es in Stuttgart so wenig im “Galao Stil” gäbe. “Das muss was mit der Mentalität der Region zu tun haben”, spekuliert er. Die Schwaben seien eben eher “Tüftler, Entwickler und Technikpioniere.”

Ein Terrain, das es auch Reiner nicht immer leicht macht. “So wenig ich geplant hatte, wie es mit dem Café morgen weitergeht, genauso wenig hatte ich geplant, wie es ohne Café weitergeht.” Es ging gut weiter, sehr gut sogar. Auch das Marienplatzfest, das Reiner Bocka inszeniert, wird Kult und erreicht bald viel mehr Menschen als die Jünger im Geiste des Galao. Rainer nennt es heute ein „Mainstream Festival, das viele Leute anzieht, die vom eigentlichen Spirit keine Ahnung haben.“ Er hofft aber, dass genügend von ihnen beseelt werden durch das, was er “Easy going Lebensart” nennt.

Reiner predigt auch als Gastronom das Gegenteil von Perfektion und Konvention. Sein Stil war immer analog. Kopfrechnen und, nur, wenn nötig, noch Kellnerblöcke. Nur zähneknirschend will er sich nun im Galao den neuen digitalen Regeln beugen.

“Willst du noch einen Kaffee haben?“, fragt er mich. Ich nehme das Angebot an. Es dauert eine Weile, bis er zurückkommt. Er wurde aufgehalten. Nur mühevoll kann er sich verabschieden. “Yes, okay, see you soon, bye.”

“Ich hab hier eine Großfamilie”, erzählt er, als er sich wieder setzt. Er habe sich ein “typisches Schneckenhäuschen” gebaut. “Ich lerne kaum noch Menschen außerhalb vom Galao kennen.” In spätestens 15 Jahren soll das alles anders sein. Da darf es einen festen Lebenspartner geben, ein eigenes Haus, vielleicht in einem fremden Land. Spontan: in Irland.

“Aber jetzt seh ich gerade nur, dass ich hier bleib bis ich sterb. Ohne Scheiß.“ Wo Kredite drücken und kaum Privatheit bleibt, behält Reiner den Humor. Er ist ein Mensch, der täglich vieles hört, viel erlebt, der vieles zu erzählen hat – sich manchmal durch “Ok, Punkt” selbst unterbrechen muss. Wie auch jetzt. Denn drüben im Galao sieht er die Gäste. Er muss jetzt wieder für andere da sein.